«Alltägliche Situation ist eine grosse Herausforderung!»

    Um ein selbstbestimmtes Leben führen zu können, sind die Grundkompetenzen Lesen und Schreiben unverzichtbar. Auch in der Schweiz haben 800’000 Menschen Mühe, einfache Texte zu verstehen. Sie können deshalb oft nur bedingt am gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Leben teilnehmen und verfügen über Potenziale, die gerade in der heutigen Wirtschaftswelt dringend gebraucht werden. Gleichzeitig werden sie von der stetig zunehmenden Informationsflut überrollt. Christian Maag, Geschäftsführer Schweizer Dachverband Lesen und Schreiben gibt einen Überblick.

    (Bild: zVg) Christian Maag: «Ein Kurs nützt – nicht nur den Betroffenen.»

    Schätzungsweise 800’000 Personen, die in der Schweiz ihre Schulzeit absolviert haben, können nicht richtig lesen und schreiben. Versagt hier unser Bildungssystem oder woran liegt das?
    Christian Maag: Nein, man kann nicht generell sagen, dass unser Bildungssystem versagt. Wir haben in der Schweiz grundsätzlich ein gutes Schulsystem. Gleichzeitig ist es aber auch so, dass offenbar ein Teil der Schülerinnen und Schüler während der Schulzeit die komplexen Fähigkeiten Lesen und Schreiben nicht in ausreichender Form erlernt. Hier gäbe es sicher Verbesserungsmöglichkeiten zum Beispiel in Form von zusätzlicher Unterstützung oder frühzeitigen Abklärungen über die Ursachen. Wichtig ist aber auch zu betonen, dass es nicht eine, sondern verschiedene Ursachen gibt die zu solchen Lücken führen können. Zu nennen sind zum Beispiel kritische Lebensereignisse in der Kindheit wie die Scheidung der Eltern, gesundheitliche Probleme und damit verbundene häufige Abwesenheit in der Schule sowie zu spät erkannte Seh- oder Hörschwäche oder Legasthenie. Oft tritt auch eine Kombination mehrerer der genannten Ursachen auf.

    Das heisst, solche Menschen sind auf andere Bezugspersonen angewiesen?
    Sehr oft ist es so, dass Menschen mit einer Lese- und Schreibschwäche stark von anderen Personen abhängig sind, die für sie administrative Aufgaben wie die Korrespondenz mit Behörden oder das Bezahlen von Rechnungen teilweise oder sogar ganz übernehmen. Fallen wichtige Bezugspersonen plötzlich weg beispielsweise durch Scheidung oder Krankheit, wird es in vielen Fällen schnell schwierig.

    Wie erleben Sie solche funktionalen Analphabeten?
    Grundsätzlich sind es ganz normale Menschen, denen man die Schwäche im direkten Gespräch nicht anmerkt. Oft schämen sie sich für ihre Schwäche und denken fälschlicherweise, dass sie damit allein sind. Sie versuchen darum, diese zu verstecken und entwickeln geschickte Strategien, damit sie nicht auffällt. Sie tun dies oft aus Angst, ihren Job zu verlieren oder weil sie das Gefühl haben, man würde sie sonst für dumm halten, obwohl Illettrismus nichts mit Intelligenz zu tun hat.

    Was sind die grössten Hürden für Menschen, die Mühe haben, einfache Texte zu verstehen?
    Das sind alltägliche Situationen wie das Ausfüllen eines Arbeitsrapports oder Versicherungsformulars, die Unterstützung der Kinder bei den Hausaufgaben, das Lesen und Verstehen eines Beipackzettels oder eines neuen Handyvertrages. Erschwerend kommt hinzu, dass solche Dokumente oft in komplizierter Sprache verfasst sind und neu auch viele Informationen primär digital verfügbar sind, was eine zusätzliche Herausforderung für viele Betroffene darstellt.

    Auch aus gesellschaftlicher und volkswirtschaftlicher Perspektive sind die Auswirkungen beträchtlich. Wie sieht dies finanziell für Kanton und Bund aus?
    Die Auswirkungen sind tatsächlich beträchtlich, deshalb betrifft das Thema auch uns alle. Es entstehen finanzielle Kosten zum Beispiel durch zusätzliche Ausgaben in der Arbeitslosenversicherung oder der Sozialhilfe. Betroffene haben gemäss Studien ein doppelt so hohes Risiko, arbeitslos zu werden. Dies führt in der Schweiz zu geschätzten Mehrkosten von einer Milliarde Franken pro Jahr. Gesellschaftlich stellt sich ausserdem die Frage des ungenutzten Arbeitskräftepotentials sowie der Chancengleichheit in Bezug auf die gesellschaftliche, kulturelle und politische Teilhabe.

    Der Schweizer Dachverband Lesen und Schreiben ist gemeinsam mit der Interkantonalen Konferenz für Weiterbildung IKW Träger der Kampagne «Einfach besser». Was steckt hinter dieser Kampagne und welche Unterstützung erhalten Betroffene damit?
    Die nationale Kampagne «Einfach besser!» wurde zusammen mit ehemaligen Kursbesuchenden erarbeitet und wird von einer breiten Allianz an nationalen und kantonalen Partnern getragen. Sie hat als primäres Ziel Erwachsene, die Schwierigkeiten im Bereich Grundkompetenzen haben, zu einem Kursbesuch für Lesen, Schreiben, Rechnen oder Computer zu motivieren. Oft wissen Betroffene nicht, dass es für sie geeignete Kurse gibt, die ganz anders sind als früher der Schulunterricht. Die Kampagne soll auf diese Kurse aufmerksam machen, eine Übersicht über das breite Angebot bieten und die betroffenen Menschen animieren, den Schritt zu mehr Eigenständigkeit zu wagen.

    (Bild: pixabay) Alltäglich Situationen können für Menschen, die Mühe mit Lesen und Schreiben haben, zu einer grossen Hürde werden.

    Die IKW hat 2021 ein nationales Projekt lanciert, das die Entwicklung von Abklärungsinstrumenten im Bereich Grundkompetenzen zum Ziel hat. Welche Bilanz können Sie ziehen und wie gestaltet sich die zweite Phase, die in diesem Herbst startet.
    Die erste Phase des Projektes bestand aus einer Bedürfnisanalyse und hat gezeigt, dass ein grosser Bedarf an solchen Instrumenten besteht. Die Instrumente sind für den Einsatz in der Beratung zum Beispiel in der Berufsberatung oder der Arbeitsvermittlung gedacht und sollen Beratenden eine Einschätzung der vorhandenen Grundkompetenzen ermöglichen, damit sie die betroffenen Personen besser unterstützen und ihnen geeignete Kursangebote unterbreiten können. In der nun startenden zweiten Phase sollen nun entsprechende Instrumente entwickelt und in verschiedenen Beratungssettings getestet werden.

    Das nationale Beratungstelefon des Schweizerischen Dachverbandes Lesen und Schreiben ist die nationale Hotline für die Beratung von Menschen, die ihre Grundkompetenzen verbessern möchte. Wie gross ist die Hürde, hier anzurufen?
    Die Hürde ist für interessierte Personen relativ gering, da die Beratung kostenlos, neutral und unverbindlich ist. Die nationale Hotline kann unter 0800 47 47 47 erreicht werden. Über diese Nummer geben wir Auskunft zu den Kurs- und Lernangeboten und unterstützen Interessierte dabei das richtige Angebot für sie zu finden und diesen wichtigen Schritt zu wagen. Zu sagen ist auch, dass wir über eine langjährige Erfahrung in diesem Bereich verfügen und gerne auf Fragen, Anliegen oder auch Ängste jeder Art eingehen.

    Mit welchen Anliegen melden sich Leute mit Lese- und Schreibschwäche bei dieser Hotline?
    Wenn sie anrufen, haben sie sich meistens schon entschieden, dass sie etwas an ihrer Situation ändern möchten. Sie suchen dann nach Angeboten in ihrer Region und Unterstützung bei der Kursanmeldung. Manchmal kommt es aber auch vor, dass erst nach einem längeren Gespräch herauskommt, wo genau der Schuh drückt und mit viel Fingerspitzengefühl vorgegangen werden muss, um die Leute zu ermutigen. Zudem melden sich auf der Hotline auch Beratungspersonen, die Unterstützung in der Vermittlung von Betroffenen brauchen.

    Per WhatsApp oder SMS schreibt heute ja jeder mehr oder weniger, wie es ihm gerade passt. Hilft das Menschen mit Schreibschwäche?
    Das kann sicher helfen, aber es ist nicht in jedem Fall förderlich. Es kann zwar die Hürde verkleinern, überhaupt zu schreiben, gleichzeitig entfällt aber auch die Übung beim Schreiben, wenn man sich keine Gedanken mehr machen muss über Gross- und Kleinschreibung oder Grammatik. Schreiben ist eine sehr komplexe Fähigkeit, die man auch wieder verlernen kann. Auch Sprachnachrichten sind für Menschen mit Lese- und Schreibschwäche sicher eine grosse Erleichterung im Alltag, auch wenn sie nicht unbedingt zu einer Verbesserung der Kompetenzen beitragen.

    Was halten Sie von einer einfachen Sprache?
    Einfache Sprache ist sicher eine Entlastung, besonders wenn es um komplexe Themen geht wie zum Beispiel bei Abstimmungsvorlagen, im Gesundheitswesen oder dem sogenannten «Behördendeutsch». Hier kann eine Vereinfachung der Sprache wichtige Informationen für alle zugänglicher machen. Entsprechend setzen wir uns auch dafür ein, dass dies möglichst breit zum Standard wird. Allerdings ist es wichtig, dass man gerade bei komplexen Themen immer auch aufpasst, dass das Wesentliche des Inhalts im Zuge der Vereinfachung nicht verloren geht und Zusammenhänge erkennbar bleiben.

    Wird es Illettrismus in der Schweiz immer geben oder wie sehen die Prognosen aus?
    Generell ist nicht damit zu rechnen, dass die Thematik verschwinden wird, sie wird sich aber sicher stets verändern. Illettrismus ist immer auch abhängig von den gesellschaftlichen Anforderungen an die Kompetenzen Lesen und Schreiben und diese steigen seit Jahren. Wir gehen davon aus, dass gerade mit der rasant voranschreitenden Digitalisierung die Situation für Betroffene nicht leichter wird. Zwar gibt es immer mehr Hilfsmittel wie Sprachnachrichten oder Apps mit Vorlesefunktionen, es müssen aber auch immer mehr Informationen in immer kürzerer Zeit selber zusammengesucht, gelesen und verstanden werden. Für Menschen mit einer Lese- und Schreibeschwäche kann sich die Hürde somit noch verstärken, vor allem wenn sie digital auch nicht so gut unterwegs sind.

    Interview: Corinne Remund


    Schweizer Dachverband Lesen und Schreiben

    Der Schweizer Dachverband Lesen und Schreiben ist die nationale Dachorganisation für Grundkompetenzen. Er ist Zusammenschluss der sprachregionalen Organisationen in der Schweiz, die seit Jahren fast allen Kantonen mit Bildungs- und Sensibilisierungsaktivitäten sowie Kursangeboten im Bereich Grundkompetenzen tätig sind. Mit seiner langjährigen Erfahrung engagiert sich der Dachverband für Betroffene und deckt alle Aktivitäten in den Bereichen Sensibilisierung, Beratung, Politik, Vernetzung sowie Aus- und Weiterbildung von Kursleitenden ab.

    Die Beratungshotline lautet 0800 47 47 47
    www.lesen-schreiben-schweiz.ch
    www.besser-jetzt.ch

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