Chinesischer Realismus

    «Selbst dann, wenn man eine rosarote Brille aufsetzt, werden Eisbären nicht zu Himbeeren,» soll der deutsche Politiker Franz-Josef Strauss gesagt haben. Der Realist ist also eine Person, die der Wirklichkeit so sieht, wie sie ist – und nicht, wie sie sein sollte. Das gilt für Westler aber auch für China.

    (Bild: zVg) Im Buch «Adventures in Chinese Realism» analysieren globale Experten in chinesischer Politik und Kultur die Politik Chinas als Realismus.

    Gerade im Westen herrscht oft die Auffassung, China sei vor allem um Harmonie, Frieden und gesellschaftlichen Ausgleich bedacht. Dass es diese Gedanken in China gibt, ist klar. Auch der Westen hat etwa die Friedensbewegung und vor ihr den Liberalismus hervorgebracht. Auch sie stellten sich eine ideale Welt vor. Doch genauso wie es hier Realisten gab und gibt, kennt sie China auch.

    Realismus und Idealismus sind gegensätzliche Standpunkte. Realisten wollen mit der Wirklichkeit umgehen, so wie sie ist. Dabei geht es ihnen meistens darum, echte Probleme mit dem Machbaren zu lösen. Idealisten richten ihre Handlungen auf einen Zustand aus, den sie für erstrebenswert halten. Dabei versuchen sie die Wirklichkeit in Richtung ihres Ideals zu ändern.

    Konfuzius und seine Gegenspieler
    In der chinesischen Ideengeschichte war Konfuzius der erste Idealist. Harmonie, Familie und Ordnung waren seine Ideale. Doch er war keinesfalls unumstritten. Schon früh etablierten sich seine Gegenspieler. Mozi und Hanfei, so ihre Namen, begründeten den chinesischen Realismus. Sie dachten, die Welt sei im Zustand des ewigen Kriegs. Also müsste man einen möglichst starken Staat schaffen, der die Menschen im Inneren beherrscht und die anderen Staaten unterwirft.

    Konfuzius wurde bekannt; die anderen weniger. Und heute geht vieles von der chinesischen Staatspropaganda auf Konfuzius zurück. Die chinesischen Auslandschulen, an denen man die Sprache Mandarin lernen kann, heissen «Konfuzius-Institute». Das Bild, das die kommunistische Führung von sich gibt, ist eines der Ordnung. Gegenüber anderen Ländern stilisiert sich Peking als Macht des Friedens.

    Kommunisten gegen Konfuzius
    Das ist umso überraschender, als die Kommunisten jene waren, die Konfuzius am meisten hassten. Noch Mao ordnete die Verbrennung aller konfuzianischer Lehrbücher an. Das Zitieren des alten Meisters war sogar eine Straftat – und dies noch weit in die 1980er Jahre hinein. Typische konfuzianische Elemente, etwa die Familienbande, wurden von der Kommunistischen Partei als reaktionäre Lüge abgetan. Wenn noch heute die Partei sagt, die Treue zu ihr stehe über der Loyalität zur eigenen Familie, verstösst sie gegen den Allerheiligsten Prinzip des Konfuzianismus.

    Auch international ist China wenig idealistisch unterwegs. Das Land startete im Jahr 1979 einen offensiven Krieg gegen Vietnam. Peking geht unerbittlich gegen Nachbaren vor, die auf internationalen Gewässern, dem südchinesischen Meer, fischen. An der provisorischen Grenze mit Indien werden indische Soldaten getötet, wenn sie internationale Gebiete betreten. Wenn China an eine internationale Ordnung glaubt, dann nur an eine chinesische Ordnung.

    Kommunisten als Realisten
    Statt also China durch die Brille der Harmonie und Ordnung zu sehen, ist es viel sinnvoller, Pekings Aktionen als knallharten Realismus zu analysieren. Im Buch «Adventures in Chinese Realism», Abenteuer im chinesischen Realismus, wird genau dies getan. Globale Experten in chinesischer Politik und Kultur analysieren die Politik Chinas als Realismus. Sie zeigen auf, welche politischen, ökonomischen, aber auch militärischen Herausforderungen in China bestehen. Diese Experten erklären auch die Reaktionen der Kommunistischen Partei.

    Das Buch scheut sich nicht davor, ganz weit zurück in das chinesische Denken zu greifen, um die gegensätzlichen Tendenzen von Realismus und Idealismus herauszuschälen. Es macht die Augen auf: Das kommunistische Regime sollte man besser als Streben nach Macht verstehen – und nicht nach Ordnung oder Harmonie oder schon gar nicht Frieden.

    Dabei gilt auch für China der Spruch «die Wirklichkeit rächt sich an der Realität.»

    Henrique Schneider


    Zur Person:
    Henrique Schneider ist Verleger der Umwelt Zeitung. Der ausgebildete Ökonom befasst sich mit Umwelt und Energie aber auch mit Wirtschafts- und internationaler Politik.

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